Gotthold
Ephraim Lessing
EMILIA
GALOTTI
Ein
Trauerspiel in fünf Aufzügen
HANDLUNG UND
AUFBAU
Exposition und erregendes Moment (1.Aufzug, 1.-8.Auftritt)
Prinz Gonzaga möchte den schönen
Morgen nützen und ausfahren. Da meldet der Maler Conti seinen Besuch an. Er hat
vor drei Monaten vom Prinzen den Auftrag erhalten, die Gräfin Orsina zu malen.
jetzt hat der Auftraggeber nur mehr wenig Interesse am Bild der Gräfin. Ein anderes
Bild, das Conti bei sich hat, erregt weitaus mehr Gonzagas Interesse. Es ist
das Bild einer gewissen Emilia Galotti, Tochter des Obersten Odoardo Galotti
und seiner Frau Claudia. Der Prinz kennt Emilia nur flüchtig, aber es ist
unübersehbar, dass er von ihrer Schönheit sehr beeindruckt ist. Er erwirbt das
Bild von Conti und ist bereit jeden Preis dafür zu bezahlen.
Conti verabschiedet sich, der Kammerherr Marinelli kehrt zurück. Noch
einmal kommt die Rede auf Gräfin Orsina. Gonzaga wird demnächst mit der
Prinzessin von Massa verheiratet werden. Aber nicht diese rein machtpolitisch
motivierte Eheschließung ist das Hindernis, die Beziehung zu Gräfin Orsina
fortzusetzen, sondern die Tatsache, dass Prinz Gonzaga von Emilia Galotti
bezaubert ist und daher kein Interesse mehr an seiner Mätresse hat. Umso
schockierter ist Gonzaga, als er nun von Marinelli erfahren muss, dass Emilia
Galotti noch heute Graf Appiani heiraten wird (erregendes Moment!). Appiani
scheut diese „Missheirat“ mit einer Bürgerlichen nicht. Zum Prinzen steht er
ohnedies in frostiger Distanz. An einer Karriere am Fürstenhof ist er uninteressiert.
Vielmehr wird er sich mit seiner jungen Frau auf sein Landgut zurückziehen.
Hettore Gonzaga sieht seine Chancen, Emilia zu seiner Geliebten zu machen,
schwinden. In dieser scheinbar ausweglosen Situation bietet sich Marinelli als
Retter an. Er schlägt vor, Graf Appiani darum zu ersuchen, als Gesandten des
Prinzen nach Massa zu reisen und aus diesem Grund die Hochzeit um einige Tage
zu verschieben.
Marinelli bricht sofort auf, um
das Vorhaben umzusetzen und keine Zeit zu verlieren. Die letzte Szene zeigt
noch einmal, wie sehr Prinz Gonzaga seinen Gefühlen ausgeliefert ist und welche
fatale Folgen dies haben kann, wenn ein Mensch an einer entscheidenden
Machtposition sitzt. Camillo Rota, der Sekretär des Prinzen, legt seinem Herrn
ein Todesurteil vor. Damit es vollstreckt wird, muss der Prinz, der ja im
absolutistischen System auch oberster Gerichtsherr ist, seine Unterschrift
unter das Urteil setzen. Allerdings kann er den Verurteilten auch begnadigen.
Hettore Gonzaga nimmt nicht mehr wahr, was er unterscheiden soll. Ohne sich mit
dem Fall auch nur eine Minute zu beschäftigen, will er „recht gern“ seine
Unterschrift unter das Urteil setzen. Camillo Rota ist irritiert. Unter einem
Vorwand hält er das entscheidende Schriftstück zurück: „Ich hätte es ihn in
diesem Augenblick nicht mögen unterschreiben lassen, und wenn es den Mörder
meines einzigen Sohnes betroffen hätte.- Recht gern! recht gern! – Es geht mir
durch die Seele, dieses gräßliche ‚recht gern‘!“
Die Stufen der steigenden Handlung (2. Aufzug)
Auf einer zweiten Handlungsebene
macht Lessing erkennbar, dass der Kammerherr Marinelli im Hintergrund
mittlerweile seine Fäden zu ziehen beginnt. Ein gesuchter Verbrecher namens
Angelo und ein Diener der Galottis, der sich als Komplize anbietet, unterhalten
sich über den Weg, den die Kutsche mit Appiani und seiner Braut heute nehmen
wird. Nur zwei Bediente werden den Wagen begleiten. Nicht auf Geld und Schmuck
der Braut hat es Angelo abgesehen, sondern auf die Braut selbst. In wessen
Auftrag, das ist leicht zu erraten.
Mittlerweile ist Emilia aus der
Kirche nach Hause gekommen. Gerade schien es noch, als seien Odoardo Galottis
Misstrauen und Vorsicht stark überrieben. Nun scheinen ihm aber die Umstände
Recht zu geben. Emilia „stürzt in einer ängstlichen Verwirrung herein“. Emilia
erzählt ihrer Mutter, was sie soeben in der Kirche erlebt hat.
EMILIA: Eben
hatt ich mich - weiter von dem Altare, als ich sonst pflege - denn ich kam zu
spät - auf meine Knie gelassen. Eben fing ich an, mein Herz zu erheben, als
dicht hinter mir etwas seinen Platz nahm. So dicht hinter mir! - Ich konnte
weder vor noch zur Seite rücken - so gern ich auch wollte; aus Furcht, daß
eines andern Andacht mich in meiner stören möchte. - Andacht! das war das Schlimmste,
was ich besorgte. - Aber es währte nicht lange, so hört ich, ganz nah an meinem
Ohre - nach einem tiefen Seufzer - nicht den Namen einer Heiligen - den Namen -
zürnen Sie nicht, meine Mutter - den Namen Ihrer Tochter! - Meinen Namen! - O
daß laute Donner mich verhindert hätten, mehr zu hören! - Es sprach von
Schönheit, von Liebe. - Es klagte, daß dieser Tag, welcher mein Glück mache -
wenn er es anders mache - sein Unglück auf immer entscheide. - Es beschwor mich
- hören mußt ich dies alles. Aber ich blickte nicht um; ich wollte tun, als ob
ich es nicht hörte. - Was konnt ich sonst? - Meinen guten Engel bitten, mich
mit Taubheit zu schlagen; und wann auch, wann auch auf immer! - Das bat ich;
das war das einzige, was ich beten konnte. - Endlich ward es Zeit, mich wieder
zu erheben. Das heilige Amt ging zu Ende. Ich zitterte, mich umzukehren. Ich
zitterte, ihn zu erblicken, der sich den Frevel erlauben dürfen. Und da ich
mich umwandte, da ich ihn erblickte -
CLAUDIA:
Wen, meine Tochter?
EMILIA:
Raten Sie, meine Mutter; raten Sie - Ich glaubte in die Erde zu sinken. - Ihn
selbst.
CLAUDIA:
Wen, ihn selbst?
EMILIA: Den
Prinzen.
CLAUDIA: Den
Prinzen! - O gesegnet sei die Ungeduld deines Vaters, der eben hier war und
dich nicht erwarten wollte!
Von Graf Appiani, Emilias
künftigem Mann, war bisher nur die Rede. Im siebenten Auftritt des 2. Aufzugs
lässt ihn Lessing auftreten. Das Bild, das bisher von ihm gezeichnet wurde,
bestätigt sich. Appiani ist ein ernsthafter Mann, nicht nur Emilia verbunden,
sondern vor allem auch ihrem Vater Odoardo, den er als „Muster aller männlichen
Tugenden“ und Vorbild lobt. Freilich regt sich hier der Verdacht, dieser Bräutigam
könnte mehr dem Geschmack des Vaters als dem der Tochter entsprechen, denn Emilia
erzählt von einem seltsamen Traum, den sie nun schon dreimal geträumt habe. Die
Edelsteine auf einem Geschmeide, das ihr Appiani geschenkt hat, hätten sich im
Traum in Perlen verwandelt – und „Perlen bedeuten Tränen“.
Marinelli kommt zu Besuch ins
Haus Galotti, um den Grafen Appiani zu sprechen. Marinellis Versuch, Appiani zu
einer Reise nach Massa als Bevollmächtigter des Prinzen zu überreden und die
Hochzeit aufzuschieben, misslingt. Da Graf Appiani Prinz Gonzaga nicht als
Untertan verpflichtet ist, kann er den Wunsch des Fürsten zurückweisen. Als
Marinelli nicht aufhört, den Grafen zu bedrängen, nennt dieser ihn einen
„ganzen Affen“. Das wird sich rächen.
Steigende Handlung, Höhepunkt, Wendepunkt (3.Aufzug)
Angelo meldet Marinelli, dass die Aktion erfolgreich verlaufen ist.
Emilia befindet sich nun auf dem Lustschloss des Prinzen, freilich in dem
Glauben, sie sei soeben einem Anschlag entgangen. Von Appianis Tod weiß sie
noch nichts. Ihre Sorge zerstreut Marinelli. Alle seine gerettet worden, und
Emilia werde ihren Bräutigam und ihre Mutter bald wieder sehen. Dass sie auf
einem Schloss des Prinzen Gonzaga ist, erfährt Emilia erst jetzt. Die erste
Begegnung mit Prinz Gonzaga folgt sogleich im 5. Auftritt. Dieses Zusammentreffen
bildet den Höhepunkt. Hettore Gonzaga hat sein Ziel erreicht. Er geht behutsam
vor, entschuldigt sich bei Emilia für sein Verhalten am Morgen in der Kirche
und versichert ihr, dass sie keines Schutzes gegen ihn bedürfe. Im Gegenteil,
er unterwerfe sich ihrer „unumschränktesten Gewalt“.
Appiani ist tot. Von ihm geht
keine Gefahr mehr aus. Aber Claudia Galotti sucht natürlich nach ihrer Tochter
und kommt auf das Schloss. Der Wendepunkt der Handlung zeichnet sich ab.
Marinelli tritt Claudia Galotti entgegen. „Marinelli“, das war das letzte Wort
des sterbenden Appiani. Claudia durchschaut nun die Zusammenhänge. Dieser
Marinelli, mit dem Appiani Streit hatte, und das Werben des Prinzen um Emilia.
Der Anschlag war nur fingiert, Emilia sollte in die Hände des Prinzen gebracht
werden. Claudia erkennt aber nicht nur die ganze entsetzliche Wahrheit, sondern
auch die Grenzen des Handelns, die ihr gesetzt sind. Appiani ist tot. Sie
selbst und Emilia sind in der Gewalt der Entführer.
Fallende Handlung (4.Aufzug)
Gräfin Orsina ahnt mit aller Deutlichkeit, dass Hettore Gonzaga nichts
mehr von ihr wissen will. Als der Prinz merkt, dass sich die Gräfin Marinellis
Versuch, sie abzuwimmeln, widersetzt, erscheint er für kurze Zeit selbst und
entschuldigt sich knapp und distanziert wegen einer unaufschiebbaren
Beschäftigung. Orsina ist schwer gekränkt. Nicht einmal eine Lüge lässt sich
der Prinz mehr einfallen, um sie wegzuschicken. Er weist sie einfach ab.
Wenigstens um eine besänftigende Lüge bittet sie Marinelli. Der Kammerherr
liefert ihr daraufhin die halbe Wahrheit. Claudia und Emilia Galotti seien beim
Prinzen, gerettet nach einem Überfall. Gräfin Orsina durchschaut sofort die
Situation. Sie weiß, dass Appiani tot ist, und sie weiß auch von den
Begehrlichkeiten ihres ehemaligen Liebhabers. Prinz Gonzaga wurde nämlich
während des Gesprächs, das er mit Emilia am Morgen in der Kirche führte, von
Vertrauten der Gräfin belauscht. Sie stellt sofort die richtigen Zusammenhänge
zwischen dem vermeintlichen Überfall und dem Begehren des Prinzen her. „Der
Prinz ist ein Mörder!“ ruft sie aus.
Als Gräfin Orsina das Schloss verlassen will, trifft sie mit Odoardo
Galotti zusammen. Die nächste Stufe der fallenden Handlung ist erreicht. Der
Oberst weiß, dass sich ein Überfall ereignet hat, dass seine Frau und seine
Tochter auf Schloss Dosalo Zuflucht gefunden haben. Während Marinelli die
Ankunft des Obersten Galotti dem Prinzen meldet, kommt Odoardo mit Gräfin
Orsina ins Gespräch (7. Auftritt). Sie klärt ihn über die Situation in ihrer
ganzen Tragweite auf. Odoardos Bedauern darüber, dass er keine Waffe bei sich
trägt, um den Prinzen zu töten und auf diese Weise Rache zu nehmen, kann Orsina
Abhilfe schaffen. Sie selbst trägt einen Dolch bei sich, um sich beim Prinzen
zu rächen. Diesen Dolch händigt sie nun Odoardo aus. Er scheint ihr der
geeignete Täter zu sein, denn seiner Tochter würde es nicht anders ergehen als
ihr selbst. Ihre Rachegefühle äußert Orsina in einem grausigen Bild: „ (...)
welch eine himmlische Phantasie! Wann wir einmal alle – wir, das ganze Heer der
Verlassenen – wir alle in Bacchantinnen, in Furien verwandelt, wenn wir alle
ihn unter uns hätten, ihn unter uns zerrissen, zerfleischten, sein Eingeweide
durchwühlten – um das Herz zu finden, das der Verräter einer jeden versprach
und keiner gab! Ha! das sollte ein Tanz werden! das sollte!“
Claudia Galotti kommt in der letzten Szene des 4.Aufzugs dazu und
bestätigt ihrem Gatten gegenüber alles, was dieser von der Gräfin erfahren hat.
Gräfin Orsina und Claudia Galotti verlassen Dosalo. Odoardo bleibt mit dem
Dolch zurück.
Die Katastrophe (5. Aufzug)
Da erscheint – im siebenten und vorletzten Auftritt – Emilia selbst. Im
Gespräch mit Odoardo erfährt sie, dass sie in der Hand ihres Räubers bleiben
soll. Das sei nicht dulden, entgegnet Emilia. Daraufhin zeugt ihr Odoardo den Dolch.
Ihre Reaktion ist allerdings verblüffend: „Um des Himmels willen nicht, mein
Vater!- Dieses Leben ist alles, was die Lasterhaften haben. – Mir, mein Vater,
mir geben Sie diesen Dolch.“ Sie begründet ihren Wunsch nach Tötung mit der Angst
vor ihrer eigenen Verführbarkeit: „Verführung ist die wahre Gewalt. – Ich habe
Blut, mein Vater, so jugendliches, so warmes Blut als eine. Auch meine Sinne
sind Sinne. ich stehe für nichts. ich bin für nichts gut. ich kenne das Haus
der Grimaldi. Es ist das Haus der Freude. Eine Stunde da, unter den Augen
meiner Mutter – und es erhob sich so mancher Tumult in meiner Seele, den die
strengsten Übungen der Religion kaum in Wochen besänftigen konnten!“ Mit dem
Hinweis auf die antike Virginia-Sage („Ehedem gab es einen Vater, der seine
Tochter von der Schande zu retten, ihr den ersten, den besten Stahl in das Herz
senkte“) drängt sie ihn zur Tötung. Odoardo ersticht seine eigene Tochter.
Im letzten Auftritt kommen Marinelli und der Prinz dazu. Hettore Gonzaga
erkennt erst jetzt, da es zu spät ist, die ganze Tragweite seiner
Begehrlichkeit und seines Verhaltens: „Ist es, zum Unglücke so mancher, nicht
genug, daß Fürsten Menschen sind: müssen sich auch noch Teufel in ihren Freund
verstellen.“ Mit dieser Einsicht in die Rolle, die Marinelli gespielt hat, aber
auch in die eigenen menschlichen Schwächen, endet das Stück.
INTERPRETATIONSHINWEISE
UND ZUSATZMATERIALIEN
Auch die Camillo-Rota-Szene aus dem 1.Akt zeigt die gravierenden Folgen
von Gonzagas Gedankenlosigkeit. Er ist so sehr auf Emilia Galotti fixiert, dass
er ohne nachzudenken seine Unterschrift unter ein Todesurteil setzen würde. Als
verhängnisvoll erweist sich natürlich auch, dass ausgerechnet ein skrupelloser
Schurke wie Marinelli dem Fürsten als Ratgeber zur Seite steht. Er bemüht sich
darum, den Wünschen und Bedürfnissen seines Herrn nahe zu kommen, koste es, was
es wolle. Dadurch erhofft er sich eine starke Position am Hof. Es ist
allerdings kein Zufall, dass ausgerechnet Marinelli der engste Vertraute des
Fürsten ist – und nicht etwa ein Ehrenmann wie Appiani oder der Oberst Galotti.
Von beiden heißt es, sie seien zum Fürsten in deutliche Distanz gegangen.
Offensichtlich duldet Gonzaga niemanden in seiner Nähe, der ihm widerspricht,
der seine Wünsche problematisiert und eine korrekte und verantwortungsvolle
Führung der Staatsgeschäfte fordert. Von Appiani heißt es, er sei freiwillig
nach Guastalla gekommen, um dem Fürsten seine Dienste anzubieten. Nun will er
sich mit seiner Braut auf seine Landgüter zurückziehen, ohne dem Hof von
Guastalla auch nur eine Träne nachzuweinen. Das hat zweifellos gute Gründe.
Die Moral der bürgerlichen Familie
Alles Verhalten solcher Personen, die nicht
miteinander verheiratet sind, ist alsdann wirklich unehrbar, wenn es nach den
Sitten der Tugendhaften im Lande dafür gehalten wird. Vermeide eine jede
Handlung, an welcher du zweifelst, ob sie mit der Ehrbarkeit bestehe. Es ist
leicht, ehrbar zu bleiben, wenn man es schon ist, und einem ehrbaren Menschen
ist es nicht schwer, in der Keuschheit zu verharren. Die Unehrbarkeit aber ist
ein abhängiger Weg zur Unzucht, an welchem sich ein Mensch schwer zurückhält,
weiterzugehen als er wollte. Faulenze niemals im Bette, wenn du des Morgens
schon erwacht bist. Sei mäßig im Essen und Trinken. (...) Wenn du diesen weisen
Ermahnungen folgst, so wirst du die Ehre, die Gesundheit, die Munterkeit des
Geistes, die reine Einbildungskraft, das gute Gewissen und die Glückseligkeit
einer keuschen Jugend behalten.
„Ehedem wohl gab es einen Vater...“ – Das Virginia-Motiv
„... Verginius (streckte) seine Hände zu Appius und rief: „Dem Icilius habe ich meine Tochter verlobt, Appius, nicht dir und zur Hochzeit habe ich sie erzogen, nicht zur Schändung. Hältst du es für Recht, dass man sich nach Art des Viehs und der wilden Tiere zur Paarung bald auf die eine, bald auf die andere stürzt? Ich weiß nicht, ob diese hier das dulden werden; aber ich hoffe, dass die es nicht dulden werden, die Waffen haben.“ Als der Mann, der das Mädchen für sich beanspruchte, von der Schar der Frauen und der um das Mädchen herumstehenden Freunde zurückgedrängt wurde, gebot der Herold Schweigen. Der Decemvir, außer sich vor Begierde, sagte, er habe nicht nur aus der gestrigen Scheltrede des Icilius und der Heftigkeit des Verginius, wofür er das römische Volk zum Zeugen habe, sondern auch durch zuverlässige Aussagen erfahren, dass während der ganzen Nacht in der Stadt Zusammenkünfte stattgefunden hätten um einen Aufruhr zu entfachen. Deshalb sei er im Wissen um diesen zu erwartenden Kampf mit Bewaffneten hergekommen, nicht um einen ruhigen Bürger zu verletzen, sondern um die, die die Ruhe der Bürgerschaft störten, kraft der Hoheit seines Amtes in die Schranken zu weisen. „Daher wird es besser sein, sich ruhig zu verhalten. Geh, Liktor“, sagte er, „dränge die Schar zurück und bahne dem Herrn den Weg, seine Sklavin zu ergreifen.“ Als er das voll Zorn mit donnernder Stimme gerufen hatte, ging die Menge von selbst auseinander und verlassen, eine Beute des Unrechts, stand das Mädchen da. Da sagte Verginius, als er nirgendwo mehr Hilfe sah: „Ich bitte dich, Appius, verzeihe zunächst dem Schmerz eines Vaters, wenn ich dich etwas zu hart angefahren habe. Dann lass mich hier im Angesicht des Mädchens die Amme befragen, wie die Sache sich verhält, damit ich, wenn ich zu Unrecht als Vater bezeichnet worden bin, mit größerer Gelassenheit von hier weggehe.“ Als er die Erlaubnis erhielt, führte er seine Tochter und die Amme beiseite in die Nähe des Heiligtums der Cloacina zu den Läden, die jetzt „die Neuen“ heißen. Hier entriss er einem Metzger das Messer und sagte: „Auf diese einzige Art, die mir möglich ist, Tochter, bewahre ich dir die Freiheit.“ Dann durchbohrte er die Brust des Mädchens und rief zur Gerichtstribüne zurückgewandt: „Dich, Appius, und dein Haupt verfluche ich mit diesem Blut.“ Bei dieser grausigen Tat erhob sich ein Schrei. Aufgeschreckt befahl Appius, den Verginius zu ergreifen. Der aber bahnte sich mit dem Messer, wo er ging, einen Weg, bis er, auch durch die Menge der Menschen, die ihm folgten, geschützt, zum Tor gelangte. Icilius und Numitorius hoben den leblosen Körper auf und zeigten ihn dem Volk. Sie beklagten das Verbrechen des Appius, die unselige Schönheit des Mädchens, die Zwangslage des Vaters.
Das bürgerliche Trauerspiel
England war das erste Land in Europa, in dem dieses vorwiegend
ungeschriebene, teilweise aber auch geschriebene Gesetz seine Gültigkeit
verlor. Dafür gibt es überzeugende sozialgeschichtliche Erklärungen. Englands
wirtschaftliche Entwicklung verlief aus unterschiedlichen Gründen rascher als
die des Kontinents. Handel und Gewerbe wurden schon bald zum wesentlichen
wirtschaftlichen Faktor, und die industrielle Produktionsweise setzte nirgendwo
so früh ein wie auf der Insel. Parallel zur wirtschaftlichen Entwicklung
vollzog sich daher die soziale Strukturveränderung. Das wirtschaftstreibende
Bürgertum wurde neben dem Adel immer mehr zur herrschenden gesellschaftlichen
Klasse, die Städte wurden neben den Fürstenhöfen zu kulturellen Zentren, und
das Bürgertum fand nach und nach zu eigenständigen künstlerischen
Ausdrucksweisen. Diesen Umständen verdankt das „Bürgerliche Trauerspiel“ seine
Entstehung. Als Beispiel für diese Art von Dramatik soll hier kurz das Stück
GEORGE BARNWELL OR THE MERCHANT OF LONDON erwähnt werden, das ein Juwelier
namens George Lillo geschrieben hat und das in London im Jahr 1731 seine erste
Aufführung erlebte.
George Barnwell ist ein junger, bislang unbescholtener Mann aus
bürgerlichem Haus, der auf die sprichwörtliche schiefe Bahn gerät, weil er
einer verruchten Frau namens Millwood verfallen ist. Um ihre Zuneigung und
Leidenschaft zu erkaufen, lässt er sich auf allerlei Unredlichkeiten ein. Als
selbst die auf diese Weise erworbenen finanziellen Mittel nicht ausreichen, um
die Luxusbedürfnisse der niederträchtigen Millwood zu befriedigen, scheut
George Barnwell nicht einmal vor dem Mord zurück. Das Opfer dieser Tat ist ein
Onkel, der sterbend noch ein Gebet für den missratenen Neffen spricht. Der
junge Barnwell wird von der Polizei gefasst und stirbt am Galgen, aber die
hexenähnliche Millwood entgeht letztlich auch nicht der verdienten Strafe, sodass
das empörte Publikum doch noch zufrieden den Heimweg antreten kann.
Diese Art des Theaters, für das GEORGE BARNWELL steht, erfreute sich in
England großer Beliebtheit und erweckte aufgrund des Erfolgs nach und nach auch
das Interesse des Kontinents. In Frankreich bemühte sich zum Beispiel der
vorwiegend als Philosoph und Enzyklopädist bekannte Denis Diderot um das bürgerliche Drama und schuf selbst zwei Stücke
dieser Art, DER NATÜRLICHE SOHN (Le fils naturel,1757) und DER FAMILIENVATER
(Le pere de famille, 1758). Und Pierre Augustin Caron, besser bekannt unter dem
Namen Beaumarchais, schuf mit seinem
Figaro eine bürgerliche Komödienfigur, die für selbstbewusste französische
Bürger durchaus ein Identifikationsangebot war.
Die Bürger der deutschen Städte hatten zwar weder im ökonomischen und
politischen noch im kulturellen Bereich den Entwicklungsstand der englischen
Standesgenossen erreicht, aber selbst in Deutschland entstand im 18.Jahrhundert
ein eigenständiges bürgerliches Drama. Den Anstoß dafür gab Gotthold Ephraim
Lessing. Lessing sah 1754 in Hamburg die deutsche Erstaufführung des oben
erwähnten Stücks GOERGE BARNWELL, und er ging sofort daran, ein deutsches
Trauerspiel dieser Art zu schreiben. Schon ein Jahr später, am 10.7.1755, wurde
in Frankfurt an der Oder das Trauerspiel MISS SARA SAMPSON uraufgeführt.
Die tragische Hauptfigur des Stücks ist ein Mädchen aus dem Bürgertum,
das den Verführungskünsten des Aristokraten Mellefont nicht widerstehen kann.
Er hat sie dazu gebracht, mit ihm in einem Provinzgasthof abzusteigen. Sara
erhofft sich eine ständige Bindung, Mellefont hält sie hin, indem er auf eine
Erbschaftsklausel verweist. Während Sara und Mellefont im Provinzgasthof ihren
Leidenschaften frönen, hat aber Marwood, Mellefonts ehemalige Geliebte, mit der
er auch ein Kind hat, William Sampson, Saras Vater, über die Situation
aufgeklärt. Beide, die Marwood und William Sampson, reisen unabhängig
voneinander in die Provinz. Marwood will Mellefont zurückgewinnen. Sampson
will, dass die Verbindung zwischen Sara und Mellefont legalisiert wird. Beider
Vorhaben wird vereitelt. Als Mellefont Marwood zurückweist, vergiftet die
tödlich beleidigte Frau ihre Nebenbuhlerin. Als Vater Sampson eintrifft, liegt
seine Tochter bereits im Sterben. Angesichts des Unglücks, das er verschuldet
hat, ersticht sich Mellefont neben Saras Leiche.
MISS SARA SAMPSON war ein enormer Publikumserfolg. Berichte über die
Uraufführung geben Auskunft über herzzerreißende Szenen im Zuschauerraum. Die
Menschen sollen in Tränen ausgebrochen und Wildfremde sollen einander in die
Arme gesunken sein. Diese starke emotionale Wirkung ist wohl nur dadurch zu
erklären, dass Lessing in seinem Drama Probleme angesprochen hat, die den
Menschen aus ihrem eigenen Erfahrungsbereich geläufig waren. Solch ein Problem
der Zeit war wohl die Verführung naiver Bürgermädchen durch Aristokraten. Es
ist sicher kein Zufall, dass dieses Motiv in mehreren deutschen Dramen des
18.Jahrhunderts handlungstragend geworden ist, so zum Beispiel in Heinrich
Leopold Wagners KINDERMÖRDERIN, in Jakob Michael Reinhold Lenz’ SOLDATEN, in
Friedrich Schillers KABALE UND LIEBE und natürlich auch in Goethes CLAVIGO und
im FAUST.
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